„The Space Between Us“ – Gemeinsam durch die Einsamkeit

Veröffentlicht von Betty am

„The Space Between Us“ – Gemeinsam durch die Einsamkeit

Sehen wir es ein: 2020 ist ein beschissenes Jahr. Und eigentlich reicht das auch schon als Einleitung. Da dies ein Larp-Blog ist, möchte ich den Fokus aber eingrenzen. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich fühle mich einsam. Ich betreibe Social-Distancing sehr konsequent seit etwa März/April und gehe nur nach Draußen, um einmal die Woche ins Büro zu fahren (mobile Arbeit sei Dank), morgens meine Runde, um den Block zu drehen als „Arbeitsweg“ und um einzukaufen. Körperlichen Kontakt hatte ich seit März zu allerhöchstens einer Handvoll Leuten, regelmäßig zu einer einzigen Person, meiner Freundin. Ich weiß, damit bin ich im Vergleich zu anderen noch gut dran, doch ganz ehrlich: es nervt und es zehrt an meinen Kräften. Ich fühle mich einsam und habe nicht mal unser liebstes Hobby als Ausgleich, weil das durch seinen sozialen und körperlichen Kern naturgemäß besonders stark von den Einschränkungen durch Corona betroffen ist.

Kreativ wie wir Larper sind, hat dieses Jahr aber auch viele Varianten hervorgebracht, dennoch unseren Larp-Fix zu kriegen.  Beispiele dafür haben Tini und ich bei unserem Larp-Talk vor ein paar Monaten bereits ausführlich diskutiert.
Ich spiele gerne Mini-Larps. Das sind kurze (5 Minuten – 6 Stunden) Larps, oft mit geskripteten Charakteren und ohne viel Props oder Gewandung für in der Regel nicht mehr als eine Handvoll Spielende. Aus all diesen Gründen war ich hellauf begeistert, als Wibora Wildfeuer mich fragte, ob ich bei ihrem Online-Larp „The Space Between Us“, welches jüngst auf dem MittelPunkt 2020 mit dem F.R.E.D. für Mini-Larps 2020 ausgezeichnet wurde, beim nächsten Run mitspielen wollen würde. Wie ihr euch denken könnt, habe ich zugesagt, denn sonst würde dieser Artikel keinen Sinn ergeben.

„Hier draußen haben wir nur einander!“ - Die Geschichte/Charaktere

„The Space Between Us“ ist ein Spiel um Einsamkeit und persönliche Konflikte. Es erzählt eine Geschichte über Konsequenzen und Familie. Es orientiert sich im Setting an Serien wie „The Expanse“ und „Battlestar Galactica“.

Wir schreiben das Jahr 2200.
Die Erde wurde endlich soweit von der Menschheit heruntergewirtschaftet, dass sogar die Menschheit selbst das nicht mehr verneinen kann. Die „Mooners“ sind die 1% der Menschheit, die es sich leisten können auf dem Mond in Basen zu leben und die Erde von dort oben aus zu regieren. Die „Earther“ hingegen leben auf der riesigen Müllhalde, die einst ein blühender Planet war und träumen davon, selbst einmal auf dem Mond leben zu können. Einige schaffen es, andere nicht.

Alle sind sich einig, dass es so nicht weitergehen kann. Doch wie immer wird sich um das WIE gestritten. Während ein Großteil der Bevölkerung ihr Heil in den Sternen sieht und die Sternenflotte Missionen aussendet, um neue bewohnbare Planeten zu finden, setzen die Öko-Terroristen von GAIA alles daran, dies zu verhindern. Ihrer Meinung nach sollte es der Menschheit nicht erlaubt sein, weitere Planeten im Universum genauso zu zerstören wie die Erde.

Die TeilnehmerInnen spielen in „The Space Between Us“ die Familie Mangata, die aufgrund ihrer Vergangenheit als „Weltraumhelden“ wie prädestiniert dafür sind die letzte Hoffnung der Menschheit zu sein. Die Charaktere sind hierbei geschlechtsneutral geschrieben, so dass es vollkommen egal ist, wie die TeilnehmerInnen sich selbst identifizieren. Maximal bei einer Rolle könnte es ein Problem geben, weil sie das biologische Kind zweier anderer Rollen ist. Hier findet man allerdings sicher auch andere Lösungen im Zweifel und ich erwähne das nur der Vollständigkeit halber. Wir hatten damit keinerlei Probleme in unserem Durchlauf.
Die Charaktere sind wie folgend:

Sigrid Mangata – Heroisches Großelternteil
Sigrid ist die/der erfahrene WeltraumheldIn mit vielen erfolgreich abgeschlossenen Missionen und wenig Zeit für die Familie.
Sigrid ist geborene/r AnführerIn und hat vor kurzem seine/ihre LebenspartnerIn Alva Mangata verloren, was ihn/sie in tiefe Verzweiflung gestürzt hat. Sigrid ist stolz auf die Familientradition und liebt die Erde.

Dr. Celestin Mangata – Liebendes Elternteil
Celestin ist das Kind von Alva und Sigrid. Auch wenn Celestin ebenfalls in die Sternenflotte eingetreten ist, konnte er/sie die Erwartungen, die an ihn/sie geknüpft wurden, nicht erfüllen. Das Erbe der Mangatas als WeltraumheldIn konnte Celestin nicht antreten, sondern hat stattdessen eine Laufbahn in der Wissenschaft eingeschlagen. Familie und das Wohlergehen aller ist Celestin äußerst wichtig. Celestin wurde vor der Mission einmal von GAIA gefangen genommen.

Franky Mangata – Entschlossenes Elternteil
Franky ist verheiratet mit Celestin. Auf der Erde geboren, wollte Franky schon immer hoch hinaus und sich einen Platz auf dem Mond verdienen. Mit der Heirat in die Mangata-Familie hat Franky seinen Traum verwirklichen können. Franky ist XO auf der Mission und Sigrids rechte Hand. Franky ist sehr stolz, Teil der Mangata-Familie sein zu können. Franky ist außerdem verwitwet. Frankys ehemalige LebenspartnerIn Alexis ist bei einem GAIA-Angriff ums Leben gekommen.

Halimede Mangata – Goldenes Kind
Halimede ist das Kind von Franky und Alexis und eifert in allem Sigrid Mangata nach. Beste/r der Klasse, jüngste/r OffizierIn der Weltraumflotte und so weiter. Halimede hat seine/n Verlobte/n auf der Erde im Kryoschlaf zurückgelassen und will nach der Rückkehr die Mangata-Linie als HeldIn weiterführen.

Callisto Mangata – Rebellisches Kind
Callisto ist das Kind von Celestin und Franky. Auf dem Mond geboren hat sich Callisto allerdings schnell für die Erde interessiert und zog am Ende, sehr zum Unmut von Franky und Sigrid, auf die Erde. Callisto teilt einige Ansichten mit GAIA und hatte eine sehr enge Verbindung zu Alva, bevor diese/r starb. Callisto wollte eigentlich nicht mit auf diese Mission, aber tat es Alva zuliebe, dessen/deren Platz Callisto einnimmt.

Dazu kommen noch weitere Geheimnisse, auf die ich hier nicht genauer eingehen möchte, um euch nicht die Spannung zu nehmen.

Man sieht schon selbst in dieser knappen Übersicht, dass genügend Potential für spannendes Konfliktspiel miteinander gegeben ist. Wenn man hier noch die in der Workshop-Phase dazu erstellten gemeinsamen Verknüpfungen addiert, kommt man schnell zu einer dichten Atmosphäre die einen packt und mitreißt.

Die Familie Mangata reißt durch die Leere des Weltalls, jede Person in ihrem eigenen Schiff, 100 Jahre im Kälteschlaf und mit genügend Ressourcen ausgestattet danach 1 Jahr lang nach einem passenden Planeten für die Menschheit zu suchen und danach erneut 100 Jahre im Kälteschlaf, um zurückzukehren. Und mit jedem Tag, wo sie nur die Gesichter dieser anderen 4 Menschen auf dem Monitor sehen, wird ihnen bewusst, wie viel Raum dort zwischen ihnen ist… „The Space Between Us“

Online-Larp? Häwatt?

Doch wie sollt ihr euch „Online-Larp“ überhaupt vorstellen? Setzen wir uns alle in unserer feinsten Fantasy-Gewandung vor den Bildschirm und tippen, was wir tun?
Natürlich nicht. Die modernen Kommunikationsformen bieten uns mit Videochat wie Skype oder Zoom viel mehr Möglichkeiten. Hier kommen wir der Sache schon näher… aber wir müssen uns doch arg vorstellen, in einer Taverne zu sein, wenn wir alle nur durch den Bildschirm sehen… und Tavernenschlägereien sind auch nicht möglich… blöd…

Richtig! Und deswegen ist „The Space Between Us“ auch kein Fantasy- sondern ein Science-Fiction-Larp, bei dem jeder Charakter in einem eigenen Raumschiff unterwegs und die Kommunikation nur via Videochat möglich ist. Dazu liefert das Spiel noch gleich Raumschiff-Cockpit-Hintergründe dazu, die man in den gängigen Videochat-Diensten einfach implementieren kann, um die Immersion zu steigern. In unserem Run hat das Implementieren nicht immer tadellos funktioniert, der Immersion tat dies allerdings keinen Abbruch. Zudem konnte man noch mit der Bord-KI, die durch die Spielleitung dargestellt wurde, oder miteinander chatten, was mehr Interaktion ermöglichte als die recht arg begrenzte Zeit, die man sonst hatte, um direkt mit den anderen Charakteren zu interagieren. Dieses gewählte Setting mit den Beschränkungen auf IT-Videocalls und -Textchats fand ich ausgezeichnet, weil es die Limitationen der aktuellen Situation direkt mit in das Setting einbezieht und ich es daher als Teil des Spiels wahrnehmen konnte und nicht ausblenden musste.

„Alva 1 – Alle Systeme normal“ - Der Spielablauf kurz skizziert

„The Space Between Us“ wartet mit fünf sehr unterschiedlichen Charakteren auf, auf die ebenfalls fünf geheime Rolle verteilt werden, die den Charakteren jeweils einen neuen Spin geben (auf die ich aus Spoilergründen allerdings nicht eingehen werde). Zu Beginn des Castingprozesses bekam jeder der Teilnehmenden alle Charakterbeschreibungen zugesendet.
Die Charaktere und geheimen Rollen wurden nach dem Ausfüllen eines per Mail verschickten Fragebogens etwa eine Woche vor dem Larp an meine MitspielerInnen und mich verteilt. Rücksprachen mit der Spielleitung zur Rollenwahl und -ausgestaltung waren jederzeit unkompliziert möglich, mussten aber von mir nicht in Anspruch genommen werden, da meine Charakterbeschreibung exakt genug war, um ein Bild vom Charakter zu bekommen, aber generell genug offenließ, um eigene Interpretationen zuzulassen.

Gemeinsam mit den Charakterbeschreibungen erhielten wir ebenso den weiter oben bereits benannten virtuellen Background für unser Videochat-Tool und das Logo unserer Fraktion, das wir uns bspw. Ausdrucken und auf die Kleidung heften konnten, um bspw. eine Uniform zu simulieren.

Etwa einen Tag vor Beginn des Spiels wurde noch einmal per Mail nachgefragt, ob wir auch weiterhin teilnehmen, denn es ist existentiell wichtig, dass alle Rollen besetzt sind. Ausfälle kurzfristig aufzufüllen sind nicht immer möglich, was eine Verschiebung des Larps notwendig gemacht hätte. Etwa eine Viertelstunde vor dem Spiel bekamen wir alle den Link zum Skype-Call zugeschickt und konnten unkompliziert beitreten.

Zu Beginn des Spiels fand eine Workshop-Phase statt, in der wir einander und unsere Grenzen kennenlernen konnten, Safety-Mechaniken erläutert wurden und wir gemeinsame Erinnerungen für unsere Charaktere ausdachten, um unsere Familie mit Leben zu füllen. Jemandem, der Mini-Larps nicht gewohnt ist, mag so eine Workshop-Phase eventuell etwas komisch vorkommen, allerdings helfen sie erfahrungsgemäß ungemein um in der relativ kurzen Zeit des IT-Spiels (3-5 Stunden) die Immersion und das intensive Spiel mit den anderen TeilnehmerInnen aufbauen zu können. Wer von euch also hier skeptisch sein sollte, dem kann ich nur empfehlen, sich auf das Ganze einmal einzulassen.


Das Spiel selbst lief in 2 Akten ab, wobei jeder Akt aus mehreren Szenen bestand. Hierbei wechselten sich Einzelszenen zwischen Charakteren und Gruppenszenen ab. Außerdem hatte jeder Charakter noch eine „Isolationsszene“, die wie ein kleiner Monolog war, der zeigen sollte, wie der Charakter die lange Zeit im Weltraum verbringt. Am Ende gab es noch ein ausgiebiges Debriefing mit Erfahrungsaustausch. Insgesamt nahm unser Spieldurchlauf (mit Pausen) ca. 8 Stunden in Anspruch, die durchschnittliche Spielzeit ist mit 5-6 Stunden angegeben.
Die Reihenfolge der Einzelszenen wurde festgelegt, indem man an der KI (SL) meldete, mit wem der eigene Charakter „telefonieren“ wollte. Die Szenen wurden dann in der Reihenfolge abgehandelt, wie sie bei der KI eingetroffen waren. Szenenlängen wurden entweder selbst festgelegt oder von der SL gecuttet, wenn es dramaturgisch günstig war oder Szenen zu lang wurden. Hierzu teilte die SL als Bord-KI mit, dass das Datenvolumen aufgebraucht war. Obwohl in den Einzelszenen IT nur die Beteiligten anwesend waren, haben OT alle TeilnehmerInnen diese Szenen mitangesehen.

„Die Lüge war, dass du mich liebst…!“ – Emotionen und Drama – Verantwortung und Kollaboration

Das Spiel ist nicht für jeden etwas. Das Spielziel, auf das auch alle Mechanismen ausgerichtet sind, sind Emotionen, Drama, Empathie und das Hinterfragen von sowohl den eigenen Handlungen als auch der unserer Mitmenschen, die ebenfalls von Einsamkeit betroffen sind. Es geht in diesem Spiel nicht darum „zu gewinnen“. Man kann nicht gegen die SL gewinnen und nicht gegen seine Mitspielenden. Die Charaktere mögen Geheimnisse und versteckte Agenden haben, aber Ziel ist es, kollaborativ eine möglichst dramaturgisch gut aufgebaute Geschichte zu erzählen und Teil dieser zu sein.

Bei meinem Run hat dies wunderbar funktioniert. Ich war Anfangs skeptisch, ob ich trotz der Trennung durch den Monitor diese emotionale Bindung aufbauen konnte zu meinen Mitspielenden, aber spätestens, als Callistos Schwester Halimede im verzweifelten Versuch, sich mit ihm zu verknüpfen, Per Videobotschaft ein Schlaflied aus gemeinsamen Kindheitstagen gesungen hat, kullerten mir die Tränen. Die Isolationsszenen waren teilweise herzzerreißend. Dazu wurde aber auch gelacht, Witze gerissen, einfühlsam miteinander geredet, um einander zu stützen, sich angeschrien, bereut und vergeben. Da gab es virtuelle Dates, einsame Tänze mit einem selbst und philosophische Diskussionen mit der Bord-KI darüber, was Nähe bedeutet und ob die KI lieben kann.

„Gemeinsam durch die Einsamkeit“ – Fazit

Auch, wenn mein Callisto es nicht geschafft haben sollte, die Einsamkeit in seiner Seele zu füllen und die Abgründe zwischen seiner Familie und sich zu schließen, so hat „The Space Between Us“ es doch   zumindest geschafft mir am Ende dieses Jahres noch ein Larp-Erlebnis zu bringen, dass ich so schnell nicht vergessen werde. Es hat mich anderen Menschen nähergebracht. Ich habe neue Freunde kennengelernt und alte Freunde besser. Ich fühlte mich ihnen nahe und mich selbst nicht mehr so einsam wie Corona es mir momentan versucht weiszumachen. „The Space Between Us“ hat es geschafft, die Themen, die uns alle momentan beschäftigen nicht nur in ein sehr gut dafür designtes Setting zu packen, sondern erreicht es auch durch die eigenen Erfahrungen im Spiel Lösungsstrategien zu vermitteln. Es ist ein Lehrstück dafür, wie das Medium Larp durch die Erfahrung Menschen neues Wissen vermitteln kann. Durch die sorgfältig ausgedachten und aufeinander abgestimmten Mechanismen werden die Kernelemente der Einsamkeit und der Konsequenzen für das eigene Handeln (auf die ich hier absichtlich nicht weiter eingegangen bin, um nicht weiter zu spoilern) in das Zentrum des Erlebens gerückt und damit zur Reflektion gebracht. Es wurde weiterhin sehr viel Augenmerk auf Inklusion gelegt, was ich nur befürworten kann. Den F.R.E.D. hat es dieses Jahr vollkommen zu Recht gewonnen und ich bin froh, dass ich diese Erfahrung machen durfte. Einziger Wehmutstropfen: Das Spiel existiert momentan nur auf Englisch, was für TeilnehmerInnen mit mangelnden Englischkenntnissen eine Einstiegshürde sein könnte. Das Spiel kann auf der Webseite der Autorin für einen selbst wählbaren Preis heruntergeladen werden.

Ich spreche, wenn man dem Setting und dem Spielprinzip nicht absolut abgeneigt sein sollte eine uneingeschränkte Spielempfehlung aus. Wenn ihr das Glück haben solltet, die Autorin als SL zu bekommen, sogar noch ein Stück uneingeschränkter (wenn das überhaupt geht).

Danke für dieses Spiel, Wibora!


2 Kommentare

Chris · 2020-12-22 um 17:02

Die Übersetzung ins Deutsche ist bereits angelaufen. Wird sicherlich auch bald veröffentlicht.

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