Wie ich meine innere Serienmörderin kennen- und lieben lernte – Ein Erfahrungsbericht zum STAY@Home – Online-Larp –
Veröffentlicht von Betty am
Wie ich meine innere Serienmörderin kennen- und lieben lernte
Erfahrungsbericht zum STAY@Home - Online-Larp
GASTBEITRAG: Dieser Beitrag wurde nicht von Larpgefluester selbst geschrieben sondern von einem Gastautor.
Dieser Beitrag ist zur Verfügung gestellt worden von: Astrid Mosler
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STAY@Home“ ist die Online-Version eines ursprünglich für 2020 geplanten, internationalen Larps um ein Hotel, in dem periodisch Geister umgehen. Das Spiel musste aufgrund der Pandemie in die unbestimmte Zukunft verschoben werden. Quicksandbox Larp Studio, das schweiz-basierte Organisationsteam, hat daraufhin in der Onlinemeeting-Plattform Gather.town ein Spuk-Hotel gebaut und eine social-distancing-konforme Teilnahme angeboten.
Termin Run 2: 23. und 24. April 2021.
Ein Erfahrungsbericht.
Ich hatte das STAY bereits vor der Pandemie auf dem Schirm gehabt: Ein angestaubtes Hotel, Freitag der Dreizehnte, Lug und Trug und Spuk – und sogar Serienmörder! Alles, was mein dramaverliebtes Herz begehrte. Allerdings hatte es wie so oft zum Zeitpunkt der Anmeldung irgendwie dann doch nicht geklappt, und so war ich damit zufrieden, die unterhaltsamen Meme-Postings in der dazugehörigen Facebook-Gruppe zu verfolgen und auf eine Wiederholung zu hoffen. Ich hatte großes Mitgefühl, als das Spiel wie so viele andere in 2020 bis auf weiteres verschoben werden musste.
Im Laufe der Monate hörte ich irgendwann von LAOGs (live action online games) und ähnlichen Konzepten, mit denen die findige Larp-Gemeinde das geliebten Hobby trotz der globalen Katastrophe zugänglich machte. Ungeachtet vieler positiver Berichte dauerte es bis Frühjahr 2021, bis ich genug um Larp, wie ich es „vorher“ kannte, getrauert hatte, und die Energie fand, mich näher mit der Online-Variante zu befassen. Der Larptalk von Betty, Tini und LAOG-Pionier Gerrit gab mir den letzten Schubs, insbesondere weil ich erfuhr, dass Online-Larp-Konzepte zwar durch die Pandemie einen riesigen Aufschwung erlebten, jedoch bereits zuvor existiert hatten und von ihrer Community als eigenes Medium verstanden wurden.
Von der Warteliste hinein in die Sandbox
Zu diesem Zeitpunkt stand der erste Termin für STAY@Home bereits dicht bevor. Quicksandbox-Larp bot eine Online-Variante der geplanten Veranstaltung innerhalb der Plattform „Gather.town“ (Hier findet ihr einen vorangegangenen Artikel zu Larps mit dieser Software. Anm. d. Red.) an. Nominell war das Spiel seit Wochen voll; gleichzeitig mussten auch immer wieder Teilnehmende absagen. Ich meldete mich also für die Warteliste an.
STAY ist ein sogenanntes Sandbox-Larp. Das heißt, alle Geschichten, die bespielt werden, speisen sich aus den Charakteren, ihren Verknüpfungen und dem, was die Spielenden aus dieser Basis machen. Die Orga bietet Rahmenbedingungen an, jedoch keinen zentral koordinierten Plot. Diese Art Larp funktioniert nicht für jede*n, dazu gibt es bereits genug Diskurse aus der Prä-Covid19-Zeit.
Es ist im Vorfeld allen Teilnehmenden (nicht unbedingt aber den Charakteren) bekannt, dass es zum Zeitpunkt der Handlung Geister geben wird, die sich im Hotel physisch materialisieren können und von denen nicht wenige … nun ja. Morde begangen haben. Und es in vielen Fällen wieder tun wollen. Wie häufig bei Sandbox-Spielen gibt es keine NSC. Das Organisationteam hat ebenfalls Rollen, die es jedoch möglich machen, zu jeder Zeit ansprechbar zu sein, allgemein wahrnehmbare Veränderungen bekanntzugeben und auf Anfrage kleine Statistenrollen zu übernehmen.
Die über vierzig liebevoll konzipierten Charaktere werden auf der Website in Form von kurzen Teasern vorgestellt, inklusive Content-Warnungen zu den zum Teil erwartungsgemäß finsteren Themen. Jede Figur kann jegliches Geschlecht haben und ist vielschichtig und spielförderlich verknüpft. Für die Anmeldung sucht man sich aus diesem reichhaltigen Angebot drei Favoriten heraus sowie, welche Figuren man grundsätzlich bereit wäre zu spielen. Diese Angaben bilden die Basis für die Rollenverteilung.
In meinem Fall war es so, dass drei Tage vor dem Spieltermin jemand absagen musste, die*der eine Rolle spielen wollte, die auf meiner „Ist-okay“-Liste stand. Eindeutiger Vorteil beim Online-Larp: Ohne Anreise und Fundus-Packen kann man in drei Tagen echt viel erreichen.
Die Grande Dame von Mord und Totschlag findet ihren Weg
Ich durfte eine Serienmörder-Rolle verkörpern, eine berühmte Violinistin, die gelegentlich Personen mit den Ersatzsaiten ihres Lieblingsinstruments erwürgte, wenn sie sich selbst oder die Musik ungebührlich behandelt sah. Während sie in der Todeszelle saß, hatte sie eine Liebschaft per Briefpost begonnen – und durch zunächst merkwürdige, aber wie sich später herausstellte, absolut logische Umstände traf sie diese Person im Rahmen des Spiels im Hotel an.
Meine Verknüpfungen wurden allesamt von sehr aufgeschlossenen und spielfreudigen Teilnehmenden dargestellt. In den drei Tagen im Vorfeld konnte ich mit einigen davon bereits Kontakt aufnehmen, um sich kurz OT kennenzulernen und darüber auszutauschen, wie wir unsere Verbindungen darstellen wollen, welche Spielerfahrung wir suchen und wo persönliche Grenzen zu beachten sind. Die Orga stellte alle hierzu notwendigen Kontakt-Informationen bereit. Am Spieltag selbst half die etwa neunzig-minütige Workshop-Phase über die letzten Unsicherheiten hinweg, wie man per gefühlter Computerspiel-Oberfläche, Videochat und Chat eine düstere Geschichte bespielt, ohne seinen Mitspielenden je physisch begegnet zu sein. Zusätzlich kommunizierte das Orgateam klar seine Vision, dass wir nicht spielen, um zu „gewinnen“ sondern, um schöne, tragische und gruselige Geschichten zu erzählen (play to struggle, play to lose, play to lift). Ein letzter Baustein waren die sinnvollen und in die Spielrealität eingeflochtenen Sicherheits-Mechaniken. Mit all dem konnte mein Charakter auch nach nur drei Tagen Vorbereitung voller Selbstbewusstsein und mit dem Flair einer unangefochtenen Ikone der klassischen Musik das Hotel Vermillion betreten.
Wie ich feststellen durfte, ist der Sandbox-Charakter bei einem Konzept wie STAY@Home ein klarer Vorteil: Das Spiel funktionierte für mich hervorragend, da ich viele Szenen mit wenigen Beteiligten spielen und den Fluss meines Erlebens selbst steuern konnte. Die verwendete Plattform Gather.town bietet den Nutzenden eine grafische Oberfläche, auf der sich die Charaktere als kleine Avatare durch ein digitales Hotel bewegen. Dichtes Beieinanderstehen der Avatare lässt die Videofenster der Teilnehmenden aufgehen, so dass man ähnlich wie bei Zoom oder Skype direkt miteinander interagieren kann. Entfernen sich Avatare voneinander, schließen sich auch die Videofenster. Das Orga-Team hat mit viel Liebe zum Detail ein mehrstöckiges Hotel mit vielen Zimmern, Sitzecken, Balkonen und anderen Bereichen geschaffen, in denen man sich als kleine oder größere Gruppe tummeln kann. Soweit ich mitbekommen habe, lief die Plattform selbst durchgängig stabil, wenn auch einzelne Spielende gelegentlich aufgrund von eigenen Verbindungsproblemen kurz verschwunden waren.
Beim Einstieg, als sich die über vierzig kleinen Pixelfiguren in der virtuellen Eingangshalle drängten, fühlte ich mich von dem Gewusel und den hektisch aufblinkenden Videochat-Fenstern ziemlich überfordert. Nachdem die Organisator*innen uns jedoch nach der ersten Ansprache in Workshop-Gruppen einteilten, verflog dieses Gefühl schnell. Es war überraschend gut möglich, die niedliche Pixel-Grafik zu ignorieren, sobald man sich in seine Rolle und ihre Beziehungen eingefühlt hatte.
Spuken leicht gemacht: Mechanismen plus Kreativität
Die Geistercharaktere haben eine Reihe von Sonderfertigkeiten, die vom Sprechen aus dem Off über geistige Beeinflussung bis hin zur kompletten Übernahme von menschlichen Figuren reichten. Es wurde auch hier klar dazu aufgerufen, diese potentiell übermächtigen Mechanismen im Sinne einer schönen Spielerfahrung für alle einzusetzen. Bei Beeinflussung und Besessenheit sowie bei konventioneller Gewaltanwendung gilt zudem die Opferregel – die Person, die angegangen wird, entscheidet, was sie mit dem Spielimpuls machen möchte. Deeskalations-, Stopp- und Eskalations-Mechanismen sind so ausgestaltet, dass sie den Spielfluss weitestgehend nicht unterbrechen.
Ich war sehr überrascht, wie viel Spannung aufkommen kann, wenn man über zwei kleine Videofenster Zeugin wird, wie ein offensichtlich besessener Agent einer Regierungsagentur mit der Dienstwaffe auf die Person zielt, die der Geist in ihm auslöschen will. In meiner Rolle als narzisstische Serienmörderin habe ich natürlich interessiert zugesehen. Als Spielerin hinter der Rolle fieberte ich jedoch gleichzeitig mit und atmete erleichtert auf, als der Agent den inneren Kampf gegen die geisterhafte Übernahme gewonnen hatte und die Waffe sinken ließ.
Viele Teilnehmende hatten auf ihrer Seite der Kamera mit viel Leidenschaft verschiedenste Requisiten bereitgelegt, um auf die Handlung reagieren zu können – von simplen Dingen wie Kunstblut, um Verletzungen spontan darzustellen, über Waffen wie Messer, Pistolen oder einer Axt bis hin zu aufwändigen Poltergeist-Effekten. Außerdem beglückten einzelne Teilnehmende ihre Verknüpfungspartner*innen mit liebevollen OT-„Effekten“, etwa in Form von real per Post versendeten Briefen oder in einem Fall sogar Blumen. In allen Szenen, an denen ich beteiligt war, hatte ich durchgängig das Gefühl, dass alle daran interessiert waren, einander eine Bühne für schöne Darstellung zu bieten und die Charaktere der anderen strahlen zu lassen. Oder bluten. Je nach dem. Zum Beispiel wurde durchgängig bespielt, dass mein Charakter berühmt – oder berüchtigt – war, was ich bei einer so kurzen Vorlaufzeit alles andere als selbstverständlich finde.
Alles in allem war deutlich zu spüren– wohltuend und irgendwie tröstlich – dass Liverollenspielende unverändert vor allem eines sind: kreativ. Und als kreative Spielgemeinschaft machen wir aus den momentanen Rahmenbedingen das Beste, in dem wir Wege finden, das Hobby, das wir so sehr lieben, in die aktuelle Situation zu übertragen. Mit derselben Leidenschaft, Hingabe und Liebe zum Detail.
Nach Sonnenaufgang geht’s weiter
Am nächsten Tag erwachte ich mit dem typischen Post-Con-Gefühl: müde, körperlich gerädert und sprudelnd mit neuen Erinnerungen an einer Stelle meines Herzens, wo seit Frühjahr 2020 mangels Larps nichts mehr wachsen konnte. Neben all den Erinnerungen, die ich von meinem STAY im Hotel Vermillion mitnehme, war das das größte Geschenk.
Stella, mein Charakter, wollte mit einem persönlichen Epilog verabschiedet werden – das brauchen nur Charaktere, die mir unter die Haut gegangen sind. Ein Gedanke, den Stella sehr befriedigend finden dürfte. STAY@Home war mein erstes Online-Larp, aber sicher nicht mein letztes.
Und: Ich musste danach nicht stundenlang übermüdet auf verstopften Autobahnen nach Hause kriechen, sondern nur das Wohnzimmer aufräumen und Omas Pelz wieder in den Fundusschrank packen.
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Tripadvisor
5 / 5 blutroten Sternen – would STAY again.
Das Wichtigste im Überblick
STAY@Home könnte etwas für dich sein, wenn:
– Du morbide, tragische Geschichten, schwarzen Humor und Drama im Allgemeinen magst
– Du mit Sandbox-Spielen etwas anfangen kannst (kein übergreifender Plot)
– Du einigermaßen englisch sprechen kannst (internationales Spiel)
– Du bereit bist, dich auf eine Larp-Erfahrung „über Bande“ einzulassen (Plattform „Gather.town“)
Nächster Termin: 23. und 24. April 2021
– Freitagabend: verpflichtende Workshops ab 19:00 Uhr inkl. Tour durchs Online-Hotel
– Samstagabend: Spiel ab 18:00 Uhr bis etwa 00:30 Uhr
– danach optional: Debriefing und Online-Party in Discord
Derzeit sind alle Plätze belegt, man kann sich jedoch für die Warteliste anmelden.
Bei ausreichendem Interesse ist ein weiterer Run möglich (voraussichtlich Mitte-Ende Juni).
Wer auf der Warteliste steht und beim April-Termin nicht zum Zuge kommt, hat einen garantierten Platz im nächsten Run. Und wird außerdem über alle aktuellen Termine per Mail informiert.
Kosten: Zahl, was du willst, Minimum 10 Euro, nur PayPal
Anmeldung auf: STAY Website
Allgemeine aktuelle Infos und Vorabkontakt: Quicksandbox Larp Studio auf Facebook abonnieren
Pro-Tipp für die Warteliste: Schreib dir auf, welche Charaktere du grundsätzlich spielen würdest, damit du im Fall des Falles eine passende Rolle bekommst.
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